Politikergespräch mal anders
Die Europawahl rückt langsam näher und dieses Jahr dürfen das erste Mal auch einige Schüler*Innen mitwählen. Alle ab 16 Jahren haben zum ersten Mal die Möglichkeit, effektiv bei der Bildung des Europaparlaments mitzuwirken. Doch sind sie darauf vorbereitet? Wissen sie Bescheid darüber, wen sie da eigentlich wählen und welche Macht von dieser Institution ausgeht? Diese Fragen stellte sich auch Sven Weinhold – Politik-und-Wirtschaftslehrer an der ARS Neu-Anspach. Er organisierte für seinen PoWi Leistungskurs und eine weitere Klasse der 10ten Jahrgangsstufe am 28.02.2024 einen Ausflug ins Europaparlament nach Straßburg, um dort mit einem ganz besonderen Politiker zu sprechen: Nico Semsrott – ehemals Kandidat „Die Partei“ und hauptberuflich eigentlich Comedian.
Nach verzögerter Ankunft im Parlament sitzen die Schüler*Innen in alten Originalsesseln des Parlaments in einem Pressekonferenzraum und warten auf den ernsten Politiker, der ihnen gleich einen langweiligen Vortrag über das EU-Parlament halten wird, da betritt ein Mann mit schwarzem Hoodie und aufgezogener Kapuze den Raum und wirft eine PowerPoint an. Die erste Folie: „Brüssel sehen und sterben“.
Es werden farbige Karten ausgehändigt, mit denen die Anwesenden abstimmen können, und die ersten Fragen Semsrotts an sein Publikum gestellt: „Fahrt ihr schwarz?“ gefolgt von „Würdet ihr schwarzfahren, wenn ihr wüsstet, dass niemand kontrolliert?“. Eine Einleitung, um anzusprechen, wie Abgeordnete Budgets der EU einbehalten, die eigentlich zurückgezahlt werden müssten. Durch seine gesamte Präsentation kritisiert der 37-Jährige die Institution, seine Kollegen und erzählt von seinen Erfahrungen in der EU-Politik. Seine ehemalige Partei beschäftigt sich vorrangig mit politischer Satire und auch Semsrott, der nun parteilos im Parlament sitzt, nutzt vor allem dieses Mittel. Sich selbst gibt er vor allem die Aufgabe der Transparenzschaffung und Aufklärung. Diese vermittelt er durchweg mit leicht überspitzten, aber zum Nachdenken anregenden Thesen. Mit seinem satirischen Stil hält er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer*Innen bei sich, während er transparent nicht nur seine eigenen Verdienste, sondern auch die Tricks seiner Kollegen, um diese Verdienste eben nicht öffentlich machen zu müssen, aufdeckt. Ein rechtsextremer Gewaltverbrecher aus Griechenland, der aus dem Gefängnis an Parlamentsabstimmungen teilnimmt oder deutsche Abgeordnete, die zufällig in ihrem politischen Arbeitsfeld als Anwalt persönlich buchbar sind, überraschen nach dem Fakt, dass Parlamentsabgeordnete sich Reisen rückerstatten lassen können, die das Parlament schon längst bezahlt hat, wohl niemanden der Zuhörenden.
Nach einer interessanten Fragerunde mit Semsrott und einem kleinen Fototermin sowie der Möglichkeit, sich live auf der Besuchertribüne eine Sitzung anzuschauen, verlassen die Schüler*Innen das Gebäude.
Noch ein Flammkuchen in der Innenstadt Straßburgs und die Möglichkeit, Baguette und Macarons zu kaufen, dann wird wieder die Heimfahrt angetreten. Ein Politikertreffen der ganz besonderen Art. Die völlig neue Perspektive auf die Macht des Parlaments und seine Abgeordneten sollten viele zum Nachdenken angeregt oder Interesse an weiterer Auseinandersetzung mit dem Thema vor der Wahl hervorgerufen haben. Eine von vielen als positiv bezeichnete Abwechslung des manchmal sehr theoretischen Politikunterrichtes.
Doch die wichtigste Botschaft des Gesprächs bleibt – vor allem, wenn man als junger Mensch einmal die Möglichkeit bekommt, mitzubestimmen – aber auch an alle Älteren, die mit schlechten Nachrichten oder Meinungsverschiedenheiten vom oder im Parlament konfrontiert sind: Politikverdrossenheit ist keine Lösung. Um etwas zu ändern, muss man teilnehmen, muss man wählen gehen. Viele unterschätzen die Macht des Parlaments und gehen nicht zur Europawahl. Herr Semsrott nennt seit Anfang des Termins vor allem einen Grund für das seiner Meinung nach viel zu korrupte und eigennützige Verhalten vieler Abgeordneter: Den fehlenden Druck von unten.
Bericht: Henri Michel Fotos: Henri Michel