Ein Stiller Sommerabend

Die dunkle Silhouette einer einsamen Gestalt hob sich vor dem Umriss des lodernden Feuerballs ab, der langsam hinter der Skyline der Stadt versank und diese in einen blutroten Schein tauchte. Die letzten Lichtstrahlen kämpften sich mühsam durch die dichten grauen Rauchwolken, die den früher so blauen, so beruhigenden Himmel verdeckten. Durch die gesprungenen Fensterscheiben eines unscheinbaren Zimmers im 7., nein 8. Stock eines der hohen, kantigen Gebäudekomplexe, die wie scharfe krallen die Rauchwolken zerschnitten und an ihren Spitzen einen Blick in die feurige Atmosphäre des „blauen Planeten“ ermöglichten, und erzeugten an dessen Wänden ein Farbenmeer mit allen Facetten des Regenbogens.

Langsam wandte die Gestalt ihren Kopf, ließ ihren Blick wegwandern von den metallenen Skeletten der Panzer, die für so viele zu kalten Särgen geworden waren und nun schon seit Jahren auf dem aufgeplatzten Asphalt in den Häuserschluchten vor sich hin verwesten. Weg von den blassen, uniformierten Leichen, die irgendeine arme Sau diesen Morgen wohl noch hastig zu unordentlichen Stapeln aufgeschichtet hatte, um Gassen für die Kämpfe freizuräumen, die diese Nacht zweifellos wieder ausbrechen würden. Sie bildeten das Fundament, auf welchem dieser seit Jahren andauernde Konflikt ausgetragen wurde, junge Menschen, die voller blindem Tatendrang, Stolz und Hoffnung jede Nacht wieder auszogen, um für ihre längst vergessenen Ideale zu kämpfen. Hoffnung, die immer weiter in sich zusammensank, während die Leichenstapel unaufhaltsam in die Höhe wuchsen, höher und höher, bis sie die in sich zusammenfallenden Hochhäuser überragten. Von dieser Szenerie also löste er seinen Blick hin zu diesem neuen Farbenspiel, dieser einen Veränderung in der tristen Welt, in dem ansonsten immer gleichen Wechsel von Feuer und Rauch, Tag und Nacht, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Der Hauch eines Lächelns umspielte seine dünnen Lippen, während er mit zusammengekniffenen Augen bedacht die grünen, blauen und violetten Farbtupfer, die über den abgeblätterten Putz und die schimmelnde Matratze des kleinen, verstaubten Bettchens huschten, betrachtete. Nicht, dass ihm so etwas banales wie Farben wichtig gewesen wären, den Menschen ja, einem jahrhundertealten, mächtigen Wesen? Nein.

Über die Jahrtausende hatten ihn unterschiedliche Kulturen unterschiedliche benannt: Ares, Camulos, Morrigan, Anhor, Mars, Maru…

Nur in seinen Attributen glich sich jeder dieser Mythen: ungezügelt, blutrünstig, wild, zornig, der Gott des Krieges.

Ein letztes würde er nun aber gerne hinzufügen: gelangweilt, zu Tode gelangweilt!

Ja er „wollte“ Krieg, jahrhundertelang hatte er sich in die Gedanken der großen Führer ihrer Zeit geschlichen, ihnen Pläne und Ideen in die Köpfe gesetzt, um Eskalationen von Konflikten zu beschleunigen. Die Menschen hatten ihm das allzu leicht gemacht, denn die Voraussetzungen für Gewalt waren bei ihnen allen tief verwurzelt: Aggressivität, Egoismus, Territorialität, ihr ganzes menschliches Wesen. Ares sah sich selbst gerne als Katalysator, er erzeugte keine Kriege, dafür sorgten die Menschen mit ihrem primitiven Charakter schon ganz alleine, er beschleunigte ihren Ausbruch nur etwas, eine eingepflanzte Idee hier, eine Intrige dort…

Es ging ihm weniger um den Krieg als Summe seiner Gewaltakte, sondern um das Symbol, welches er darstellte. Er genoss das Wesen des Krieges, das Loslassen von jeglicher Moral, die Manifestation und Offenbarung der menschlichen Abgründe. Im Krieg zeigte der Mensch sein wahres Gesicht, er wurde zu den Tieren, von denen er sich sonst so gerne abgrenzte. Kleine Ameisenkolonien, die sich auf Befehl ihrer Anführer gegenseitig abschlachteten, bis nichts mehr übrig war außer verbrannter Erde und einer blassen Erinnerung an den Menschen, der man einmal gewesen war, der man nie mehr sein könnte. Ein sich ständig wiederholender Prozess.

Immer wieder eine neue Riege skrupelloser Machtmenschen, die bereit waren, unzählige Opfer in dem Feuer ihrer Gier, Machtbesessenheit und Propaganda verbrennen zu lassen.

Immer wieder eine neue oder auch bereits bekannte Minderheit, die den Brandstifter spielen musste.

Immer wieder die Begeisterung der jungen Menschen, endlich einen Sinn in ihrem Leben gefunden zu haben, endlich für ihre Ideale und Vaterland kämpfen zu dürfen, endlich, endlich, endlich in ihrer Blauäugigkeit sterben, sterben, sterben oder alternativ morden zu dürfen. Im Krieg wurden Mörder zu Helden, der Tod zu etwas Ehrenhaftem.

Das klang doch alles ganz wunderbar, oder? So als müsste der Gott des Krieges gerade die Zeit seines Lebens haben, in diesem neuen Krieg, der alle vorangegangenen in seiner Verheerung übertroffen hatte. Das hätte er auch sicher gehabt, wenn die Menschen nur so rücksichtsvoll gewesen wären, ein paar von sich übrig zu lassen.

Doch sie waren einfach zu effizient geworden, zu gut in dem Kriegshandwerk, effektiver noch als der Kriegsgott selbst, wofür er sich zugegebenermaßen ein kleines bisschen schämte. „Wer hätte denn ahnen können, dass die Menschen, wenn es drauf ankommt, so einfallsreich sein könnten?“ knurrte er zwischen grimmig zusammengebissenen Zähnen in die stille Abendluft.

Er erhielt keine Antwort, hatte auch keine erwartet. Das einzige Geräusch, das die unnatürliche Stille durchbrach, war sein eigenes Echo, welches von den grauen Stahlgerüsten der Gebäude widerhallte, die einzigen Zuhörer die mit glasigen Augen in das Grau starrenden Leichen hunderte Meter unter ihm. Natürlich konnte ihm niemand eine Antwort geben, die spärlichen Reste der Menschheit, die die nuklearen Sprengsätze und Bomben eingepfercht in kleinen Bunkern tief unter der Erdoberfläche überlebt hatten, würden diese auch erst im Schutz der Dunkelheit wieder verlassen, wenn die höllischen Temperaturen auf der Erdoberfläche auf aushaltbare Werte sanken, um sich weiter zu dezimieren.

Er selbst würde warten, beobachten, sich langweilen, so lange bis der letzte Mensch den vorletzten in blindem Pflichtbewusstsein erschießen würde.

Dann wären sie nur noch zu zweit.

Der Gott, den seine eigene Kreation überholt und der Mörder, der den Untergang seiner Spezies besiegelt hatte.

Die Sonne verschwand hinter der Skyline der Stadt.

Und im Schutz der eintretenden Dunkelheit verließen die Ameisen ihre Verstecke.

Ein Schrei zerriss die Luft, der erste von vielen, voller Schmerz, Angst und… Erleichterung.

Anonym